Bin ich aufgeregt. Ostern! Die erste Tour 2002. Saukalt ist es am Morgen des Karfreitag. Die Honda CBR 1100 XX ist schwer geworden. Ungewohnt. Alles fährt sich ein bisschen wackelig, übervorsichtig.
Eine grosse Tour soll es werden, Mecklenburg-Vorpommern, Fläming, Brandenburg, Oderbruch, Havelland, Müritz, Uckermark. Doch erst, wie immer wenn es nach Osten geht, sitze ich in der Motorradkneipe ‚Bei Tania', trinke Kaffee an der B195. An ‚meiner' Strasse. Wärme auf. In der Sonne in schwarzem Leder windstill sitzend ist es warm, aber schattige Wälder mit Tempo: Brrrrrrrr! Nachts ist es immer noch unter Null Grad. Über den Winter habe Tania dieses und jenes gemacht, sagt sie. Bäume gepflanzt, Zedernholz sortiert, was man so macht, wenn keine Gäste kommen. Tania ist eine Lebenskünstlerin.
300 Kilometer und sechs Stunden später, im Schloss Storkau bei Stendal, geniesse ich die wunderbare Lage des Schlosses nicht lange, denn die warme Küche hat nachmittags geschlossen. Ob ich nicht einen Spaziergang durch die Elbauen bis dahin machen wolle.... Will ich nicht! Ich habe Hunger! Eine sympathische Dame in Tangermünde fragt mich charmant: 'Als Vorspeise Blattsalate der Saison an gegrillten Scampi in einem Dialog mit Honigschaum, anschliessend geschmortes Lamm an Thymian-pommes-de-terre mit Böhnchen und als Dessert hausgemachter Pflaumenkompott auf Vanillepudding?' 'Ja, ich will!', antworte ich ergriffen. Sehr angemessen das Ganze nach acht Stunden Fahrt.
Über der ersten Unterkunft, der Jugendherberge Milow, schwebt ein riesiger Vollmond (wieso ist der so gross?) in einem sternenklaren Himmel. Die spärliche Dorfjugend balzt entweder mit langem, lockigem Haar oder leistungsgesteigerten VW Polo um das jeweils andere Geschlecht. Fast fünf Monate Motorradpause lassen mich das Fahren doch sehr anders erleben als in der winterlichen Sehnsucht erträumt. Das Ganze ist sehr anstrengend, richtig Arbeit. Mein Rücken ist verspannt, das Fahren verkrampft, die Landschaft nehme ich kaum wahr. Alle Aufmerksamkeit ist aufs Motorrad gerichtet. Auf die Reifen. Auf den den neuen Lenker. Schleudert der Scott-Oiler nicht zu viel Öl auf die Kette? Keine Kurve klappt wie ich es will. Die hätten problemlos mehr Tempo vertragen. Wesentlich mehr. Und wieder zu früh gebremst...
Der Anreisetag geht vorüber. Am Biwak der Jugendherberge, einer Anlegestelle für Kanuwanderer (so was gibt's im Havelland!), geniesse ich melancholisch meinen ersten Motorrad-Ausflugs-Sonnenuntergang 2002. Der Himmel glüht und sieht aus wie die Erinnerung an eine Frau, die man früher einmal liebte. Ja, ziemlich kitschig. Ist aber so. Und wieder bin ich eine Saison älter geworden.
Mit Kikeriki, Vogelgezwitscher und Hundegebell beginnt der Ostersamstag. Um kurz nach sechs Uhr in der Früh ist der Tag so unberührt, unschuldig und frisch wie in einem Heimatfilm. ‚Im Frühtau zu Berge...' summe ich unwillkürlich.
Eine Überbelegung der Knabendusche (!) veranlasst den Herbergsleiter, mich zur Nutzung der Dusche 'Leitung Herren' ausnahmsweise zuzulassen. Mit Stolz geschwellter Brust nehme ich auf dem Weg zur Leitungsdusche die Parade der respekterstarrten Knaben ab. Der Tag kann beginnen, ein sonniger Morgen im Havelland.
Anlässlich eines sonnendurchfluteten Frühstücks verrät mir der etwas alkoholisiert riechende Küchenwart sein appetitliches Geheimnis:
'...die Budda schneit ick längs duach un denne die kleenen Buddaschtügge ab und denne dekorier ick dette un denne macht dette doch watt her so fürt auje...'
Alleen, Alleen, Alleen. Jede Menge Gegend. Auch zu Ostern kaum ein Mensch zu sehen. Ab Milow an der Stadt Brandenburg vorbei durch einen Ort namens Eigene Scholle. Die Belziger Landschaftswiesen führen nach Luckenwalde. 'Heute hier, Morgen dort...' gröhle ich unter dem Helm. Die Sonne strahlt prall zur Mittagszeit. Zwölf Uhr am Samstagmittag und in der hübschen Altstadtpassage hat nur eine Gaststätte die Stühle rausgestellt. Kein Gast draussen, kein Gast drinnen, die beiden Servicedamen tauschen den neuesten Tratsch aus und ignorieren schlicht alles, was nach Gast aussieht.
Dieses Desinteresse an der Einhaltung gastronomischer Zackigkeit finde ich charmant. Wenn ich was will kann ich mich ja schliesslich bemerkbar machen.
Auf dem Weg nach Gräbendorf beim Pätzer Vordersee werden alle 100 Meter fangfrische Fische im Strassenverkauf angeboten. Dies hindert das ortsansässige Landgasthaus nicht, ausschliesslich panierten Tiefkühlfisch anzubieten. Was leider erst auf dem Teller auffällt. Auch das ist regionaler Charme.
Alleen und Wälder führen vorbei am wunderschönen Scharmützelsee, schon im April ein Mückenparadies.
Die XX fahre ich inzwischen deutlich sicherer als noch einen Tag zuvor. Der vergessene Nierengurt muss allerdings dringend ersetzt werden. Die Strassen sind - besonders bei Ortsdurchfahrten - teilweise so schmerzhaft schlecht, dass die Eingeweide straff zusammen gehalten werden müssen.
Am Marktplatz in Beeskow lungert die Jugend herum. Wer in der Provinz nach Attraktionen sucht und sie im Aussen erwartet, wird wahnsinnig. Als gebürtiger Provinzler weiss ich wovon ich spreche. Um 17.30 Uhr am hellichten Tag räumt die Service-Dame des einzigen Lokals mit Aussenbestuhlung am Beeskower Marktplatz die Stühle weg. Ohne auch nur gefragt zu haben, ob ich etwas wünsche. Es ist so warm, warum ist nur kein Leben auf dem Platz? Die wenigen montierten Bänke schauen vom Platz weg, auf die Hauptstrasse. Die Jugend lebt offensichtlich mit und in ihren Autos...
Kurz vor der polnischen Grenze, in der Jugendherberge ‚Bremsdorfer Mühle', beziehe ich mein nächstes Quartier. Das Gefühl, ganz woanders zu sein ist inzwischen wieder da. Dieses prickelnde Unterwegs-Sein. Die Jugendherberge ist keines der üblichen großen Gebäude, sondern ein 17.000 qm großes Areal mitten im Nirgendwo. Jede Menge Gegend und Wald Wald Wald. Keine Menschenseele. Wohlgemerkt, es ist Ostern! Am Abend noch ein Besuch im nahen Beeskow. Auf der Festwiese ist heute ein ‚Österliches Spektakulum'. So auf mittelalterlich getrimmt: Mittelalterliche Currywurst, mittelalterliches Döner Kebap, mittelalterliche Weinbrand-Cola. Mit Besuchern auch aus dem nahen Polen. Osterfeuer, Marktschreier, Essen, Trinken. Sehr viel, zu viel Trinken. Rosa, eine junge, sehr schöne, elegant und teuer gekleidete, englischsprechende Polin erklärt mir ihre Sicht aufs Deutsche. Auf diesen protzigen Reichtum. In Köln, in Berlin habe sie gearbeitet. Ihr Redeschwall kommt ins Stocken, als ich sie nach ihrer Arbeit frage. Irgendwann verliere ich Rosa aus den Augen. Noch ein Osterfeuer in der Jugendherberge. Sehr freundliche und naturverbundene Menschen erfreuen sich des Waldes. Und dann tiefer, erholsamer, erfrischender Schlaf.
Vogelgezwitscher weckt mich um kurz nach fünf Uhr am Morgen des Ostersonntag. Das Duschwasser ist eiskalt. Raureif auf dem Motorrad. Im Sonnenaufgang spazieren gehen. Ist das schön. Ich bin sprachlos. Kindliches Staunen. Ein Bach, eine Mühle, Wald. Viel Wald.
Der riesige Wachhund der Jugendherberge knurrt mich bedrohlich tief an, ein bestimmtes ‚AUS!!!' meinerseits lässt ihn verstummen und schwanzwedelnd auf mich zukommen. Die Stunden in der Hundeschule mit unserem kleinen Fiffi zu Hause haben sich doch gelohnt. In meinem Zimmer ist es so kalt, dass ich meinen Atem sehe. So frühe Spaziergänge enden immer gleich: Morgenhunger! Während des Frühstücks lausche ich einem arbeitswütigen Specht bei der Frühschicht.
Wenige Kilometer entfernt, am Müllroser See, überwältigt das große Nichts eines Ostersonntagmorgens. Ein See, ein Angler, eine Ente, ein paar Häuser.
Auf dem Weg aus der Oder/Neiße in meine geliebte Uckermark kommt mittags doch die Sonne durch und es wird wieder wärmer. Die Gäste des verrauchten Restaurants 'Zur süßen Last' weisen mich mitleidig auf die noch freien Plätze im Restaurant hin. Sie können nicht verstehen, daß ich darauf bestehe, an der frischen Luft zu sitzen. Wer sich je fragte wer um Himmels willen diese volkstümlichen Schlagerhitparaden eigentlich hört, dem sei ein Besuch der Oder/Neiße-Region nahegelegt.
Die Strecken sind sehr beschaulich. Zwar schön, aber auf die Dauer ist diese endlose Waldlandschaft ermüdend. Also weiter, weiter in die Uckermark.
Und da ist sie, diese Landschaft. Weite, ein richtiges Gefühl von echter Weite im Naturpark Uckermärkische Seen.
Zum Abschluss wähle ich das erste Haus am Platz in Feldberg als Quartier: das Hotel 'Deutsches Haus'. Das Motorrad parkt nach hinten raus, auf der Seeterrasse. Mit Blick auf den wunderbaren Feldberger See lausche ich Fröschen, Enten und einer Osterfeuer-Band auf der anderen Seeseite, die zwischen Reinhard May, Bob Dylan, Howard Carpendale und Ute Freudenbergs 'Jugendliebe' variiert.
Der Nachbartisch singt lauthals 'Jugendliebe' mit. Und ich kennne das noch nicht mal. Mitleidig mit verklärtem Blick kann die Kellnerin nicht verstehen, dass jemand nie zu 'Jugendliebe' geheult hat.
Am Feldberger Osterfeuer wird es noch warm und kurzweilig. Wie auch in Beeskow geht es hier in Feldberg sehr herzlich, deftig und direkt zu. Die zeitraubende Etikette ist auf ein Minimum reduziert, die Übergriffe des anderen Geschlechts sind offensiv und allgegenwärtig.
Am frühen Morgen (inzwischen meine liebste Tageszeit!) auf der Terrasse vom 'Deutschen Haus' kann ich mich gar nicht mehr beruhigen, will immer wieder fotografieren. Frühnebel, Morgenlicht, Tauperlen im Gras, absolute Stille, nur und ausschließlich Tiere melden sich zu Wort. Kein Boot auf dem See, kein Autogeräusch, die Trunkenbolde des Osterfeuers noch in tiefem Schlaf. Vier Stunden Vorsprung habe ich heute, am Ostermontag, vor dem Rest der Welt. Und der Feldberger See gehört mir allein.
Reste des Feuers glühen noch, auf Plakaten bittet die Kurverwaltung Rücksicht zu nehmen. Trotzdem quakt ein Frosch lauter als der Hahn vom Hof gegenüber kräht. Die Natur feiert den ersten April. Ein Fest für die Sinne. Obwohl noch lange keine Frühstückszeit ist, habe ich Lust auf im Feuer gegrillte Kartoffeln und Forellen. Es ist so schön dass meine Augen feucht werden.
Plakate kündigen Auftritte von Modern Talking, Hansi Hinterseer+Band,
böhse onkelz und der großen Schlagerparade der Volksmusik an. Ich muss weiter.
Röbel an der Müritz ist bereits vertrautes Terrain, wie immer nehme ich einen Kaffee im Garten des Hotel Seestern im Segelhafen. Wie immer schmeckt der Kaffee entsetzlich, wie immer ist die Aussicht auf diesen hübschen Ort bezaubernd. Die Strassen füllen sich. Elf Uhr. Der Tag beginnt träge seine Rückreiseaktivität. Die Nation bricht auf in den Alltag.
Was für eine anstrengende Reise war dieser Osterausflug. Der Wunsch nach Rausch stand über der Vernunft, die eine gemäßigte erste Tour des Jahres geboten hätte. Jetzt bin ich völlig erledigt und gelobe, die nächste Tour besser und vor allem bedächtiger zu planen. Aprilwind weht, die Kühle der Nacht verbrennt in der Frühsonne, Möwen kreischen, ein Kaffeelöffel klimpert in einer Tasse.
Die Welt genießen wollte ich. Und das habe ich geschafft.