Drei Tage Drei Nächte

So sehen vorbildlich geputzte Motorräder aus...

Mecklenburg Vorpommern

Ein Bericht von Rainer Janneck

Immer hat es geregnet. Immer! Vor allem an den Wochenenden. Und jetzt das: Seit einer Woche Sonne, die Wettervorhersage "...ein stabiles Hoch an den Küsten der Nord- und Ostsee sowie in den umliegenden Regionen..." - So soll es sein, nix wie weg!
Donnerstag voller Vorfreude das Motorrad geputzt, Freitag so früh wie möglich aus dem Büro geschlichen. Dem Hamburger Feierabendverkehr entflohen, auf die Autobahn und GAAAAAAAAAASSS! Runter auf die Landstrasse und los geht der Traum: Mecklenburg Vorpommern. Mitten in Deutschland und nur Gegend, kaum eine Menschenseele. Was dem Städter bisher noch gar nicht auffiel: Der Raps blüht! Der durch und durch blaue Himmel rahmt saftiges Grün. Saftiges Grün rahmt pralles Gelb. Ein Farbenrausch bis zur Müritz.

Sobald vor oder hinter mir auch nur ein einziges Auto zu sehen ist fühle ich mich durch dies Gedränge bereits belästigt. So gross ist das ersehnte Gefühl von Abgeschiedenheit. Die Luft ist klar und saftig, voller Lebenskraft. Es riecht nach Raps, Raps, Raps... Alles lebt.
An einer Tankstelle spricht mich ein Motorradfahrer an: Sorry, aber ich möchte alleine weiterfahren. Allein sein.


An der Müritz: Jugendherberge von oben
In der Jugendherberge Zielow freue ich mich darauf, heute abend meine permanente Alltagsunausgeschlafenheit endlich auszuschlafen. Die Arbeitswoche und die 7 Stunden ununterbrochener Fahrt haben mich geschafft.
Die vorherige abendliche Ausfahrt bringt noch ein irritierendes und beunruhigendes Gespräch mit Herrn Seifarth, der in dem Strassendorf Lalchow am Plauer See ein kleines, liebevoll gestaltetes Anwesen unterhält - zu erkennen an der Schrifttafel: "EZ 25,-- DZ 50,--". Schöne Zimmer!

Herr Seifarth malt und gestaltet und beherbergt.
Seit der Wende hat er dies alles überwiegend mit Materialien erbaut, "... die Andere weggeworfen haben..." Ein gemässigter Aussteiger, der eine Zärtlichkeit und Liebe zu den Dingen ausstrahlt, die mich beschämt zurücklässt.
Den langen Tag abschliessend besuche ich ein selbsternannt piekfeines Fischrestaurant. Der Kellner mustert irritiert die schmuddelige Motorradkleidung. Aus Bosheit bestelle ich das teuerste Gericht. In der Jugendherberge ist ausser mir nur noch ein weiteres, älteres Paar ("...wir waren schon überall...") untergebracht. Das wars. Die kolossale Mückendichte an der Müritz verhindert weiteres Spazierengehen, um kurz nach 22.00 Uhr ist Bettruhe.
Neun Stunden später bricht die Herbergsromantik mangels warmem Duschwasser kurzfristig zusammen, um sich aber angesichts des Anblicks der Riesensees bei einem ausschliesslich für mich bereiteten Herbergsfrühstück entschieden zu bessern. Durch das bekannte Blau/Grün/Gelb gehts weiter. Irgendwie will ich mich bis Usedom durchschlagen, bleibe aber überall hängen: Ein Forsthochsitz mit herrlicher Aussicht, Brotzeit an einem einsamen Bootsanleger, Pinkelpausen mit anschliessender Besprechung der kommunal- und weltpolitischen Lage mit den Inhabern der Örtlichkeit nehmen jeweils ihre Zeit in Anspruch.
In der Burg Stargard in gleichnamigem Ort ist die Ruhe kurzzeitig vorbei. Eine Hochzeit - Feiern, die ich grundsätzlich begrüsse - treibt mich weiter meines Weges ans Meer. Schwichtenberg. Ein Strassendorf im Nichts. Bauernfrühstück DM 3,90; Erbsensuppe DM 4,50; Geflügelleber mit selbstgemachtem Kartoffelpürree in ausgelassenem Zwiebelfett und Salat für DM 7,90... das nehm ich! Boooaah Ey, was für eine Portion! Pappsatt. Während der Zeit von 1. Bestellen, 2. Warten aufs Essen; 3. Essen der grossen Portion, 4. Massieren des schmerzend vollen Bauchs haben ein Fussgänger, ein Radfahrer und zwei Autos die Hauptstrasse passiert. Die Gäste der Gaststätte sind um 13.00 Uhr schon deutlich alkoholisiert und fragen mich nach Woher? und Wohin? und Warum? Weder das Eine noch das Andere ist begreifbar. Was für eine Welt! Die Strassen der nächsten vier Kilometer sind von derart schlechtem Kopfsteinbelag, dass eine kleine Motorradinspektion fällig ist. An der wirklich schönen Seebrücke in Ahlbeck mit angeschlossener Promenade liegt ein Cafe neben dem anderen. Jeder macht seine Senioren-Musik lauter als der Nachbar. Ein Klangbrei. Senioren hören nach Meinung der Gastwirte offensichtlich nicht so gut. Wegen oder trotz der Intensivbeschallung? Der Kaffee kostet so viel wie noch kurz zuvor ein ganzes Mittagessen. Hier finde ich es nicht schön.
Stargard in Burg Stargard

Zucht und Ordnung in Heringsdorf...
Die nächste Jugendherberge, Heringsdorf, ist direkt um die Ecke. Oder doch noch kurz nach Rügen fahren? Oder Lesen hier am Strand? Ein junges, sichtlich gelangweiltes Paar knutscht sehr aufreizend, finden die Damen am Nachbartisch: "...die hat ja in sein Ohr die Zunge..." Den Gatten der Damen gefällts. Die Damen verbitten sich diese Sicht der Dinge. Die Strohhalme sind Schwarz/Rot/Gold eingefärbt. "Lecker Kuchen" "Lecker Kaffee" "Lecker Eis" "Lecker..." sind die Hauptvokabeln in dem Stimmengewirr, "Santa Lucia" ist das momentan dominierende Sangeskunstwerk.

Macht was her, so ne Seebrücke! Keine Frage!

Hier ist zweifellos viel los... Wer’s mag?!
Ein jung-dynamischer Seniorenanimateur übernimmt das Mikrofon und ruft uns "lieben Gästen" aus dem Pavillion der Strandmusik die Ankündigung eines bunten Melodienstrauss russischer Folklore zu. Jetzt singen die tatsächlich, Santa Lucia läuft auch noch! Kaffee austrinken und weg, denke ich. Aber hier ist es irgendwie lustig: "Basmiä eh baddi njewatsch, Basmiä eh baddi njewatsch, Basmiä eh wladdi je määäääääääh..." ist die Sangesbotschaft. Die Rentner applaudieren zustimmend und wirken dabei so bemüht wie die Musikanten selbst. Der nächste Hit: "Basnu wijetschnie..." dagegen kann gefallen, hat richtig Pepp. Die rothaarige Knutscherin erscheint ohne ihren Ohrenmann und wirkt unausgelastet. In dieser Gegend muss gerade eine Landratswahl oder Ähnliches stattfinden. In jedem Dorf werben oberlippenbärtige Jungdynamiker ("Einer von uns!") für ihre jeweilige Gesinnung. Am Problembewusstesten wirken die Kandidatinnen (!) der PDS.

Doch nun bin ich neugierig auf die "...kilometerlangen Sandstrände..." Irgendwo bei Ückerwitz sitze ich im Sand, geniesse die späte Nachmittagssonne und komme das Strand- und Badeleben Ostdeutschlands zusammenfassend erneut zu dem Schluss: Mecklenburg Vorpommern ist grossartig! Am schönsten aber ist es nicht an den Küsten, nicht an den kilometerlangen, blitzsauberen Stränden, nicht am Meer sondern vielmehr in den endlosen Wäldern, Feldern, Alleen und Wiesen abseits der Küstenlinie. Nicht, dass es am Meer nicht schön wäre. Sylt wäre froh, solche Strände zu haben. Nein: Was mich irritiert ist der Widerspruch zwischen piekfeiner, niegelnagelneuer Küstenbebauung (Sonderabschreibung sei Dank) und dem Selbstverständnis der Gäste und Gastgeber der Küstenregion, welches der äusseren Noblesse entschieden nachsteht.

0,3 l leckeres Rostocker Dunkel (TM); um 19.30 Uhr ist mir in Motorradkluft zu warm auf der Seebrücke Heringsdorf, das ist die mit den schwarzen Dächern. Das Rostocker Dunkel tut seine Wirkung erstaunlich schnell. Als aber auch die kakaotrinkenden Tischnachbarn dieses schwankende Phänomen erleben wird erneut klar: Wir sind auf einer Seebrücke in der Ostsee. Und jetzt, in der untergehenden Sonne, ist es doch schön hier.

...und sie bewegt sich doch! Nachweisbar mit Rostocker Dunkel(TM)...
Der Abend dauert lang, die vielen Rostocker Dunkel (TM) lassen uns erst in letzter Sekunde schwankend die Herbergstür finden. In Heringsdorf herrscht strenge Hausordnung.
Sonntag Mittag. In Teterow am Schlosspark gibts Eis und Kaffee. Das Motorrad habe ich beim letzten Tanken absprühen müssen: Es ging fast nichts mehr wegen der dicken Schicht Fliegenmatsche. Am Nachbartisch ist von morgigen Gewittern die Rede. Morgen ist Montag. Das nach wie vor omnipräsente Blau/Grün/Gelb verliert in dem Maße an Faszination, wie der Alltag in meinem Bewusstsein an Präsenz gewinnt. Die Strassen, Dörfer, Städte sind sehr, sehr schön. Idylle ist ein passendes Wort. Harmonie. Was - zumindest mich - stört sind Menschengruppen. Denn nur in der Natur allein zu sein ist wirklich berauschend. Nur: Woher kriege ich dann einen Espresso?

Nymphenbrunnen der Burg Schlitz

Park im Gutshaus Stellshagen
Die Burg Schlitz bei Teterow ist beeindruckend! Auch erotisch qualifiziert! Hier komme ich nochmal in weiblicher Begleitung her. Nach einem Wildgericht gehts weiter zum Endspurt an die See. Wie immer nur ein eher kurzer Blick aufs Meer, im sehr schönen Gutshaus Stellshagen gibt es biologisch-ökologisch einwandfreien Abendtisch. Das Wildgericht von vor wenigen Stunden lässt nicht mehr zu als ein politisches korrektes Dessert.

Doch selbst dieser kleine Nachtisch lohnt den Aufenthalt im wunderschönen Park des Gutshauses.

Der Herberge Bekerwitz, einer hübschen Villa, hat die Zeit ein gänzlich anderes Gesicht gegeben als ursprünglich vorhersehbar.
So herrschaftlich können Jugendherbergen aussehen
Zwei liebenswürdige Damen versorgen im Schichtbetrieb vorwiegend ganze Jugendgruppen. Heute sind es aber nur drei Gäste. Familiär ist da der rechte Ausdruck. Anlässlich meiner Ankunft wurde ich Zeuge eines meine Person betreffenden Dialoges: "Ist da noch ein Wanderer gekommen?" "Ja, ein Senior aus Hamburg..." "Wanderer" heissen im Jugendherbergsjargon die mehr oder weniger unverhofft kurzfristig auftauchenden Gäste. Wer das 26ste Lebensjahr überschritten hat fällt zudem in die Preis- und Sozial-Kategorie "Senior". Womit ich Prachtbursche trotz 1000er Honda gerade noch als "wandernder Senior" durchgehe... Nachdenklich am plätschernden Brunnen im Park sitzend berieselt dieser meine letzten, müden Gedanken zu meiner Drei Tage Drei Nächte Flucht.

Trotz der Anstrengungen des nahezu ununterbrochenen Motorradfahrens fühle ich mich erfrischt. Mein Kopf ist freigepustet. Die untergehende Sonne, die Frische, die Wärme, das Vogelgezwitscher, die ruhigen und angenehmen Menschen um mich herum, die schöne Müdigkeit: All das gehört zu mir und es ist gut so.

Das ist viel für drei Tage und drei Nächte.
...rüstiger Senior nach Wanderung.

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